Sektenbegriff und institutionelle „Sekten“-Verfolgung in Deutschland

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Hintergründe

Die mediale Diffamierung und behördliche Diskriminierung von uns als Gemeinschaft und vieler weiterer Fälle steht im Kontext gut belegter, intensiver kirchlicher Aktivitäten zur Bekämpfung jedweder Art von Konkurrenz auf dem „Glaubensmarkt“. Sowohl Theologen als auch Betroffene haben recherchiert, dass seit dem Aufblühen alternativer Lebensweisen, säkularer Werteorientierung wie Umweltschutz oder Menschenrechte, oder oft fernöstlich geprägter spiritueller Wege im Zuge der 68er-Bewegung die Verfolgung vieler Gruppierungen durch die großen Kirchen eine Renaissance erlebt. Wie zur Zeit der Inquisition oder zu NS-Zeiten erfolgt dies in enger Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden.

Die Grundlage dafür bildet ein ausgeweiteter Sektenbegriff, der von abgespaltenen religiösen Sondergruppen auf vielfältige „weltanschauliche, philosophische, politische, pädagogisch, wirtschaftliche, kulturelle, esoterische Gruppierungen“[1] ausgedehnt wurde. Das Sektennarrativ basiert auf perfiden rhetorischen Grundlagen. Einer der ersten „Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen“ der evangelischen Kirche, Friedrich-Wilhelm Haack (1935-1990) prägte in Schriften und Vorträgen in den 1970er und 1980er Jahren abwertende Begriffe wie „Ersatzreligionen“, oder „Jugendreligionen“ – letztere besonders geeignet, um die Angst der Menschen um ihre Kinder zu schüren, die in die „Fänge“ einer solchen „Sekte“ geraten könnten. Pauschale Argumentations-linien waren dabei weitere Begriffs-Neuschöpfungen wie „konfliktträchtige Gruppe“, oder „Psychokult“, deren rhetorische Verknüpfung mit schlimmsten Verbrechen wie Menschenopfer oder Terrorismus und die Ablenkung von der inhaltlichen Ausrichtung kritisierter Gruppen hin zu angeblich stets zu verzeichnenden totalitär-vereinnahmenden Organisationsstrukturen.

Zentraler Punkt des Sektennarratives ist die Mär vom psychologischen Brainwashing der Mitglieder, die durch die Gruppe ihres freien Willens beraubt würden. Diese Theorie der psychischen Abhängigkeit wurde bereits in den 1980er Jahren von der APA (American Psychological Association) als unwissenschaftlich verworfen und ihre Vertreter werden infolgedessen vor Gerichten in den USA nicht mehr als Experten geladen. Untersuchungen im Rahmen einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages kommen zu ähnlichen Ergebnissen.

Dessen völlig ungeachtet wird mit der Mär von der Gehirnwäsche bis heute die Ablehnung jeglicher Glaubwürdigkeit aller Interviewpartner, Leserbriefschreiber und sogar gerichtlicher Zeugen begründet, die positiv gegenüber der fraglichen Gemeinschaft eingestellt sind – als „Anhänger“ werden sie als unzurechnungsfähig oder zu allen Lügen bereit eingestuft.

Seit den 1970er Jahren gibt es hunderte, heutzutage nur noch als Weltanschauungsbeauftragte bezeichnete Stellen in den beiden großen Kirchen[2]. Seitdem verbreiten sie diese Argumentationslinien durch Schriften und Vorträge sowie intensive politische Lobbyarbeit, teils durch selbst initiierte „Elterngruppen“ oder Bürgerinitiativen und deren 1977 gegründeten Dachverband „Aktion für geistige und psychische Freiheit.“[3]  Diese suchen das Gespräch mit Abgeordneten, schreiben Briefe an Bischöfe, Kirchenleitungen oder Ministerien und Leserbriefe an Zeitungen.

Es ist ihnen gelungen, in schulischer Bildung, Behörden wie Polizei und Jugendamt und den Medien das Bild einer angeblichen Bedrohung durch hunderte gefährliche, allesamt durch dieselben Argumente zu verurteilenden Gruppierungen zu verankern. Ein Drehbuch bewährter und modernisierter Methoden – Rufmord statt Mord – wird angewandt, um diese zu destabilisieren und auszuschalten.

In Kapitel 7 seines Buches „Die neue Inquisition“ analysiert der Philosoph und Theologe Prof. Dr. Hubertus Mynarek die Methoden, mit denen kirchliche und staatliche Sekten- und Weltanschauungsbeauftragte gegen sogenannte „Sekten“ vorgehen. Er identifiziert dabei zehn zentrale Vorgehensweisen:

 

 

  1. „Die Sektenkeule“ (Sektenbegriff als Totschlagargument)
  2. Verunglimpfung, Verspottung, Verhöhnung der Gründer und Leiter neureligiöser Bewegungen
  3. Verächtlichmachung der neureligiösen Bewegungen als Okkultismen und Irrrationalismen
  4. Abwertung der neureligiösen Gemeinschaften als Synkretismen (zusammengemischte Lehren)
  5. Der ständig erhobene Vorwurf der Gefährdung und Schädigung Jugendlicher
  6. Die Einspannung von Staat, Eltern- und Bürgerinitiativen in die kirchliche Verfolgung der neureligiösen Bewegungen
  7. Massive Einflussnahme auf die Medien
  8. Die Mär vom ungeheuren Reichtum der „Sekten“
  9. Hysterisches An-die-Wand Malen eines Massen(selbst)mordes von „Sekten“-Anhängern
  10. Rufmord, Berufsverbot, Existenzvernichtung, Psychoterror

Mynarek kritisiert diese Methoden als undemokratisch und sieht in ihnen eine moderne Form der Inquisition, die individuelle Freiheitsrechte und die Vielfalt religiöser Überzeugungen bedroht.

 

Von Magdalena Kloibhofer

Quellen:

Mynarek, Hubertus (1999): Die neue Inquisition. Sektenjagd in Deutschland. Mentalität – Motivation – Methoden kirchlicher und staatlicher Sektenbeauftragter.“ Verlag: Das Weisse Pferd.

Holzbauer, Matthias (2003): Der Steinadler und sein Schwefelgeruch. Das neue Mittelalter – Die Verfolgung religiöser Minderheiten in der Geschichte – Die Verfolgung der Urchristen im Universellen Leben heute. Verlag: Das Weisse Pferd.

Flückiger, Felix (1998): ‘Sekten‘-Jagd. Die neue Intoleranz – Fakten, Hintergründe, Einwände. Alpenland Verlag.

Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode (1998): Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ https://dserver.bundestag.de/btd/13/109/1310950.pdf

Langhans, Michael (2021): Kinderschutz oder Genozid: Zur Lage der Religionsfreiheit in Deutschland am Beispiel des Orde der Transformanten. https://familienrecht.activinews.tv/kinderschutz-oder-genozid-zur-lage-der-religionsfreiheit-in-deutschland-am-beispiel-des-orde-der-tranformanten/

Murken, Sebastian und Sussan Namini (2004): Selbst gewählte Mitgliedschaft in religiösen Gemeinschaften: Ein Versuch der Lebensbewältigung? In: C. Zwingmann & H. Moosbrugger (Hrsg.). (2004). Religiosität: Messverfahren und Studien zu Gesundheit und Lebensbewältigung. Waxmann. https://religionspsychologie.de/inc/download/murken+namini2004a.pdf?m=1547124916

Seiwert, Hubert (2004): Religionsfreiheit und Konformismus. Über Minderheiten und die Macht der Mehrheit. LIT Verlag.

Verweise:

[1] Siehe Flückiger, Felix (1998): „‘Sekten‘-Jagd“, Seite 7.

[2] In der katholischen Kirche sind sie über mehrere Hierarchiestufen dem „Dikasterium für die Glaubenslehre“ im Vatikan unterstellt, der Nachfolgeeinrichtung der früheren Inquisition.

[3] https://sites.google.com/view/agpf/willkommen

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